Predigt am Israelsonntag, 10. Sonntag n. Trinitatis
16. August 2020 Pfaffenhofen

Predigtwort: Röm. 11, 25-32 (II)
nach der Wilckens-Übersetzung und der Basisbibel
Brüder und Schwestern, ich will euch über folgendes Geheimnis nicht in Unkenntnis lassen. Denn ihr sollt euch nicht selbst einen Reim auf die Sache machen: Die Verstockung, die einem Teil von Israel geschehen ist, wird nur so lange dauern, bis alle heidnischen Völker zur Fülle des Heils gekommen sind. Und auf diese Weise wird schließlich ganz Israel gerettet werden. In der Heiligen Schrift heißt es ja auch: „Vom Zion her wird der Retter kommen und alle Gottlosigkeit von Jakob nehmen. Das ist der Bund, den ich, der Herr, mit ihnen geschlossen habe. Er wird erfüllt, wenn ich ihre Schuld von ihnen nehme.“ Betrachtet man es von der Guten Nachricht her, dann sind sie Gottes Feinde geworden. Und das kommt euch zugute. Betrachtet man es aber von daher, dass Gott sie erwählt hat, dann bleiben sie von Gott geliebt. Es waren ja ihre Vorfahren, die er einst erwählt hat. Denn was Gott aus Gnade geschenkt hat, das nimmt er nicht zurück. Und wen er einmal berufen hat, der bleibt es. Früher habt ihr Heiden Gott nicht gehorcht. Aber weil die Juden ungehorsam waren, hat Gott jetzt euch sein Erbarmen geschenkt. Und genauso gehorchen sie jetzt Gott nicht, weil er euch sein Erbarmen geschenkt hat. Dadurch werden künftig auch sie sein Erbarmen finden. Denn Gott hat alle im Ungehorsam vereint, weil er allen sein Erbarmen schenken will.

Liebe Gemeinde

Ein Geheimnis ist es, sagt der Apostel, wie man das verstehen soll, dass Gott angeblich die einen erwählt und die anderen nicht. Könnte man sich ja auch sparen, denken manche. Weil die Vorstellung, selber zu den Erwählten zu gehören, einen arrogant macht. Und die Angst, nicht erwählt zu sein, schon in der Vorstellung von Anfang an mit drin steckt. Überhaupt klingt alles so endgültig, so schwer, tief und kompliziert. Zum Fürchten halt. Und erweckt nicht jeder, der etwas dazu sagt, den Eindruck, als könnte er dem lieben Gott über die Schulter schauen und wüsste alles ganz genau, wie und wen Gott erwählt? Also am besten gar nichts über Erwählung sagen? In ihren Antworten auf die Frage, wer denn zu den Erwählten zählt, hat sich die christliche Kirche in ihrer 2000 Jahre alten Geschichte kaum einmal mit Ruhm bekleckert. Das möchte ich ganz deutlich sagen. Sie hat sich fast immer für das Gegenteil entschieden, für den Antisemitismus oder zumindest für das Antijüdische. Schon deshalb, weil es angeblich ‚die Juden‘ waren, die Jesus, ‚unseren (!) Christus‘, d.h. ‚unseren‘ Messias gekreuzigt haben. Als könne man vergessen, dass Jesus selber Jude war; dass es ein paar ganz Fromme und religiöse Obere waren, die sich den Rebell Jesus auf römerloyale Art und Weise vom Hals schaffen wollte. Nicht ‚die Juden‘.

Wäre es also doch besser, gar nicht mehr über die Erwählung zu predigen? Das würde aber all jenen Recht geben, die sich als die Erwählten ansehen – obwohl ihre Vorstellung nichts mit dem zu tun hat, was geschieht, wenn Gott erwählt. Also mache ich auch heute einen Antwortversuch, der jenen widerspricht, die sich für die Erwählten halten und die anderen für die Verstockten. Zumindest wage ich einen direkten Versuch ohne viel theologischen Anlauf. Ich glaube, dass Erwählung nur ein anderes Wort dafür ist, dass Gott für jeden Menschen einen Auftrag hat, ein Mandat, zu dem wir berufen sind. ‚Mandat‘ ist lateinisch: ex manu datum, auf Deutsch: aus der Hand gegeben. Wir kennen es bei Wahlen, dass wir einem Kandidaten ein Mandat geben, d.h. wir haben durch die Wahl etwas aus unserer in seine Hand gegeben. Und dieser hat nun einen Auftrag, etwas für jemand anderen auszuführen. So erwählt auch Gott, dass er einzelnen oder einer Gemeinschaft ein Mandat gibt. Erwählung hat nichts damit zu tun, dass er irgendjemand mehr lieben oder würdiger erachten würde. Gottes Auserwählung dient dazu, allen anderen klar zu machen, dass sie selbst auch erwählt sind. Das ist das Überraschungsmoment. Die einen sollen die anderen in die Tiefe und ins Licht führen, wohin sie selbst geführt wurden. Jesus wird das einmal so sagen: Wer mir nachfolgen will, der nehme sein Kreuz auf sich. Das ist Erwählung, die Erwartung Gottes an den Menschen. Gott legt uns etwas auf, er braucht uns.

Ich sah eine Reportage im Fernsehen: Eine Ärztin, ca. 60 Jahre, lebt unter unvorstellbaren Bedingungen seit Jahren in verschiedenen Flüchtlingslagern dieser Erde um den Menschen zu helfen. 45 Minuten lang versucht die Autorin der Reportage das Geheimnis zu ergründen, warum diese Ärztin trotz all des Leides und der höllischen Bedingungen weiter ein Herz voller Liebe hat und nicht verbittert ist. Sie fragt die Ärztin: „Sagen Sie, wie halten Sie das aus? Das übersteigt doch alle Kräfte! Das ist doch eine für Menschen ganz und gar unmögliche Aufgabe!?“ Die Ärztin antwortet lächelnd: „Aber eine schöne Aufgabe!“ Etwas fast Unmögliches, die Kräfte eines Menschen Übersteigendes drückt sich da aus. Aber sie strahlt, sie sieht und fühlt die andere Seite: Die Aufgabe ist schön und sinnvoll für sie.

Gott legt uns etwas auf, er braucht uns. Es ist auch unser Auftrag, Licht zu sein. So hat ihn das Volk Israel in den Worten der hebräischen Bibel weitergegeben. Licht und hell wird es, wenn Rache der Vergebung weicht. Wie es sich anfühlt, wenn Barmherzigkeit den Ton angibt und nicht das Gesetz des Stärkeren. Die Fähigkeit zur Selbstreflexion, zur Infragestellung der eigenen Position, die Schärfung des Gewissens, die Gnade der Umkehr, die kritische Haltung der eigenen Religion gegenüber – das und vieles mehr ist die Gabe Gottes an diese Welt, die gehütet und bewahrt wurde im Schoß des Volkes Israel, weitergegeben an uns durch Jesus Christus.

Das war selbst für Jesus nicht von Anfang an so klar, dass er auch zu uns, den Heiden, geschickt worden sei, also zu denen, die nicht an den Gott glaubten, der das Volk Israel aus der Not befreit hat. Erinnern wir uns, wie eine Frau aus dem Umland Kanaans, eine Nichtjüdin, zu Jesus kommt und ihn um Hilfe für ihre Tochter bittet. Da heißt es im Evangelium nach Matthäus (15, 23-28): Aber Jesus gab ihr keine Antwort. Da kamen seine Jünger zu ihm und baten ihn: „Schick sie weg! Denn sie schreit hinter uns her!“ Einfach nur genervt waren sie, die Jünger. Und Jesus ignoriert auch noch ihren Hilferuf. Aber Jesus antwortete ihnen: „Ich bin nur zu Israel gesandt, zu dieser Herde von verlorenen Schafen.“ Aber die Frau warf sich vor ihm nieder und sagte: „Herr, hilf mir doch!“ Aber Jesus antwortete: „Es ist nicht richtig, den Kindern das Brot wegzunehmen und es den Hunden vorzuwerfen.“ Die Frau entgegnete: „Ja, Herr! Aber die Hunde fressen doch von den Krümeln, die vom Tisch ihrer Herren herunterfallen.“ Darauf antwortete ihr Jesus: „Frau, dein Glaube ist groß! Was du willst, soll geschehen!“ In demselben Augenblick wurde ihre Tochter gesund.

Ungeheuerlich, dass sich diese arme Frau so sehr selber demütigen muss! Und ich hoffe, dass Jesus sich noch lange geschämt hat für seine Abweisung, er sei nur für die Kinder Israels gekommen, und dass die Frau – und mit ihr wir alle als nichtjüdische Heiden – letztlich nur wie die Hunde seien, die den Kindern Israels nicht das Brot wegnehmen dürften. Bitte lest es selber nach, wenn ihr nach Hause kommt, genauso hat Jesus geredet. Und wie schlagfertig und klug jene arme Frau reagiert, dass ihr das mit den Hunden einfällt, die die Krümel und Brosamen von den Tischen ihrer Herren essen. Jesus erkennt in diesem Moment den Glauben der Frau. Und auch seine eigene Verstockung. Wie Schuppen fällt es Jesus von den Augen, dass sein Mandat aus Gottes Hand – ex manu datum – in seine Hand gegeben, allen Menschen ohne Ausnahme gilt – nämlich an den Gott zu glauben, den er selbst Abba, lieber Vater, nennt.

Liebe Gemeinde, Licht beleuchtet sich nicht selbst, Licht strahlt aus auf andere. Licht vertreibt die Dunkelheit. Licht bringt Wärme. Diese gemeinsame Aufgabe von Juden und Christen bleibt unverändert. Das ganz große Anliegen des Apostels Paulus war ja, dass das jüdische Volk ein für alle Mal erwählt wurde. Gott bereut da nichts, sagt Paulus. Gott nimmt nicht zurück, was er einmal ausspricht. Ich fürchte, dass wir das Jahrhunderte lang in der Mehrheit übersehen und überhört haben. In ihrer Geschichte hat die Christenheit ‚ihren‘ Jesus nicht verstanden und Paulus auch nicht. Man hat fast den Eindruck: Das Christentum hat die Welt unterrichtet in der Verachtung der Juden. Die Kirche, die Christenheit, hat sich in Gottes Schoß gesetzt und den älteren Bruder hinuntergeschubst, und wie wir wissen, auch ermordet, es ist auch bei uns noch nicht so lange her. Und alles nur, weil viele glauben wollten, Christen seien allein das neue Volk Gottes. Selbst Martin Luther sprach ganz allgemein von ‚den Juden‘ und meinte, dass sie verstockt sind, weil sie selbst so viele Jahrhunderte nach Christus auf Erden immer noch nicht erkannt hätten, dass Jesus der Messias sei. Verstockt waren hier aber nicht ‚die Juden‘, sondern Martin Luther an dieser Stelle. Hören wir noch einmal hinein in die Worte des Apostel Paulus an die Römer, wie er vom Volk Israel als unseren Geschwistern spricht, mit denen wir gemeinsame Vorfahren haben; er sagt: Betrachtet man es (…) von daher, dass Gott sie erwählt hat, dann bleiben sie von Gott geliebt. Es waren ja ihre Vorfahren, die er einst erwählt hat. Denn was Gott aus Gnade geschenkt hat, das nimmt er nicht zurück. Und wen er einmal berufen hat, der bleibt es.

Wir sind Geschwister, erwählt, die Botschaft weiterzuerzählen in Wort und Tat, dass Gott die Schwachen liebt. Wenn Geschwister streiten, so bleiben sie doch Geschwister. Wir verzichten darauf, dem Volk Israel seinen Platz in der Geschichte mit Gott und den Menschen streitig zu machen. Wir verzichten darauf, unsere Identität auf der Negativfolie anderer zu beschreiben. Wir können eine neue Seite unserer gemeinsamen Geschichte aufschlagen und sagen: ‚Wir haben das Licht von euch empfangen, von Jesus unserem Herrn und eurem und unserem Bruder. Und wir bringen es gemeinsam bis an die Enden der Erde.‘

Erwählung ist nicht als ein Geschenk an uns selbst, sondern als ein Geschenk für andere zu bewahren. Keine selbstgefällige, keine selbstzufriedene Religion, sondern wir helfen uns gegenseitig, das Gebot der Liebe über alle anderen zu stellen, so wie wir es heute im Evangelium gehört haben. Gott helfe uns dazu.

Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.

Eberhard Hadem 15. August 2020