Predigt am Sonntag Rogate,
9. Mai 2021 Freiluftgottesdienst Pfaffenhofen

Predigtwort: Sir 35, 15b-26
Der Herr ist ein Richter, und vor ihm gilt kein Ansehen der Person. Er hilft dem Armen ohne Ansehen der Person und erhört das Gebet des Unterdrückten. Er verachtet das Gebet der Waisen nicht noch die Witwe, wenn sie klagt. Die Tränen der Witwen fließen die Backen herab und schreien gegen den, der sie hervorgerufen hat. Wer Gott dient, wie es ihm gefällt, der ist ihm angenehm, und sein Gebet reicht bis in die Wolken. Das Gebet des Gedemütigten dringt durch die Wolken, aber bis es ankommt, findet er keinen Trost. Aber es wird nicht ablassen, bis der Höchste darauf achtet. Er wird den Gerechten Recht verschaffen und nicht säumen noch Langmut zeigen, bis er den Unbarmherzigen die Lenden zerschmettert. Auch an den Heiden wird er Vergeltung üben, bis er die Menge der Frevler vernichtet und die Zepter der Ungerechten zerbricht, bis er dem Menschen nach seinen Taten vergilt und die Werke der Menschen nach ihren Plänen, bis er seinem Volk Recht schafft und es erfreut mit seiner Barmherzigkeit. Sein Erbarmen erquickt in der Zeit der Not wie Regenwolken in der Zeit der Dürre.

Liebe Gemeinde

Es gibt ein Gebet, das ohne Worte auskommt. Es kann das Schreien und Rufen des eigenen Herzens sein. Es kann das Keine-Worte-mehr-sagen-Können sein. Dann können wir nur noch unser Herz zu Gott emporhalten, damit er in uns lese, wie es uns geht. Das ist dann kein Gebet, wie wir es landläufig kennen, bei dem wir mit einer Anrede an Gott beginnen und mit einem Amen enden, mit gefalteten Händen und geschlossenen Augen. Manche Gebete sind wortwörtlich Dasein vor Gott. Was in Jesus Sirach beschrieben ist, meint dieses Da-seiende Beten: Es reicht bis in die Wolken. Ganz intime Dinge sind es, von denen sich Gott berühren lässt. Gott verachtet das Gebet der Waisen nicht noch die Witwe, wenn sie klagt. Die Tränen der Witwen fließen die Backen herab und schreien gegen den, der sie hervorgerufen hat.

Auch Tagebücher bergen ganz persönliche und intime Gedanken, die nicht für die Öffentlichkeit bestimmt sind. Aber wenn eine Tagebuchschreiberin nicht mehr am Leben ist, dürfen ihre Worte in unser Gedächtnis genommen werden. So lese ich euch den Tagebucheintrag einer längst verstorbenen Person aus dem Jahr 1941 vor:

Manchmal meine ich, den Weg zu Gott durch meine Sehnsucht allein, durch eine ganze Hingabe meiner Seele in einem Augenblick erzwingen zu können. Wenn ich ihn sehr bitte, wenn ich ihn so über alles liebe, wenn mir das Herz so weh tut, weil ich weg bin von ihm, müsste er mich zu sich nehmen. Aber es gehören viele Schritte, viel allerwinzigste Schritte dazu, und es ist ein sehr langer Weg. Man darf nicht verzagen. Als ich einmal so verzagt war, weil ich immer wieder zurückfiel, da wagte ich es nicht mehr zu beten, ich nahm mir vor, von Gott nicht mehr zu wollen, bis ich wieder eher bestehen konnte vor seinen Augen. O, es war doch im Grunde ein Wollen zu Gott. Ich kann ihn aber immer bitten, das weiß ich jetzt.
(10.11.1941)

Das sind Worte einer jungen, zwanzigjährigen Kindergärtnerin vom 11. November 1941, aufgeschrieben in Blumberg, einer Stadt am Südostrand des Schwarzwaldes. Ihr Name ist uns wohl bekannt. Heute, am 9. Mai, hätte sie ihren 100. Geburtstag gefeiert. Sophie Scholl begann am 7. Oktober 1941 ihren Kriegshilfsdienst als Kindergärtnerin in einem Kinderhort in Blumberg, den sie dort bis Ende März 1942 ableisten musste.

Als Jugendliche war sie ein überzeugtes Hitlermädel, nahm gerne an den Heimabenden des BDM, des Bundes Deutscher Mädel, teil. Ein halbes Jahr nach dem Tagebucheintrag beginnt sie im Mai 1942 ihr Studium der Biologie und Philosophie in 1München. Durch ihren Bruder Hans Scholl lernt sie Studenten kennen, die gegen Hitlerdeutschland eintreten wollen. Bei einer Flugblattaktion am 18. Februar 1943 in der Münchner Universität wird sie mit anderen Mitgliedern der Widerstandsgruppe ‚Die weiße Rose‘ verhaftet. Vier Tage später, am 22. Februar, wird sie wegen angeblichem Hochverrat zum Tod verurteilt. Das Urteil gegen sie, ihren Bruder Hans Scholl und ihre Freunde wird noch am selben Tag um 17 Uhr vollzogen.

Sophie Scholl hätte es wohl sehr gefallen, was in unserem Predigtwort beschrieben ist, was wir tun können und was Gott tun wird. Da ist von den Frevlern die Rede, wie Gott ihnen nicht nur nach ihren Taten, sondern schon nach ihren Plänen vergelten werde. Ob Sophie Scholl dieses Bibelwort gekannt hat, weiß ich nicht. Aber ich lese noch einmal einige Sätze so vor, als hätte der Schreiber des Jesus Sirach die Worte für sie geschrieben:

Das Gebet der Gedemütigten dringt durch die Wolken, aber bis es ankommt, findet sie keinen Trost. Aber ihr Gebet wird nicht ablassen, bis der Höchste darauf achtet. Er wird der Gerechten Recht verschaffen und nicht säumen noch Langmut zeigen, bis er den Unbarmherzigen die Lenden zerschmettert. Auch an den Heiden wird er Vergeltung üben, bis er die Menge der Frevler vernichtet und die Zepter der Ungerechten zerbricht, bis er dem Menschen nach seinen Taten vergilt und die Werke der Menschen nach ihren Plänen, bis er seinem Volk Recht schafft und es erfreut mit seiner Barmherzigkeit. Sein Erbarmen erquickt in der Zeit der Not wie Regenwolken in der Zeit der Dürre.

Liebe Gemeinde, jede Zeit wird im Rückblick beurteilt. Auch unsere Zeit. Dass manche glauben, sie lebten heute in einer Diktatur wie damals Sophie Scholl, ist ein schrecklicher Irrtum, geboren in großer Angst. Ich lerne bei Sophie Scholl, wo ich hingehen kann mit meiner Angst. Ich lerne bei ihr, was die Bibel die Klage nennt. Eine Form des Gebets, dass wir beinahe verlernt haben, vor lauter Wünschen und Bitten, die wir zu Gott haben. Manchmal bin ich überwältigt, wie dankbar Menschen sind, deren Leben ganz und gar nicht behütet und bewahrt geblieben ist. Ob es schlimmer war als es jetzt zurzeit für manche Kinder und Familien in der Pandemie ist, ist nicht nötig zu beurteilen und abzugrenzen. Corona stellt uns alle auf den Prüfstand. Niemand ist davon ausgenommen, niemand auf der ganzen weiten Welt. Kennt die Geschichte der Menschen etwas Vergleichbares? Ich glaube nicht.

Viele Lebensgeschichten gehen nicht gut aus. Auch manche Psalmen der Bibel enden nicht harmonisch, nicht glücklich, sondern sie bleiben Klage der Menschen. Hören wir noch einmal Sophie Scholl in einem Tagebucheintrag vom 29. Juni 1942:

Mein Gott, ich kann nichts anderes als stammeln zu Dir. Nichts anderes kann ich, als Dir mein Herz hinhalten, das tausend Wünsche von Dir wegziehen. (...) Denn ich weiß es, dass ich nur bei Dir glücklich bin, ach, wieweit bin ich weg von Dir, und das beste an mir ist noch der Schmerz, den ich darüber empfinde. Doch ich bin so tot und stumpf oft. (...) Doch kann ich Dich kaum mit „Du“ anreden. Ich tue es, in ein großes Unbekanntes hinein, ich weiß ja, dass Du mich annehmen willst, wenn ich aufrichtig bin, und mich hören wirst, wenn ich mich an Dich klammere. Lehre mich beten. Lieber unerträglichen Schmerz als ein empfindungsloses Dahinleben. (...) Ich möchte mich aufbäumen dagegen.
Im Dezember 1941 hat sie notiert: Wenn ich beten will und überlege mir, zu wem ich bete, da könnte ich ganz verrückt werden, da werde ich dann so winzig klein, ich fürchte mich direkt, so dass kein anderes Gefühl als das der Furcht aufkommen kann. Überhaupt fühle ich mich so ohnmächtig, und ich bin es wohl auch. (...) Weißt du, wenn ich Gott denke, da stehe ich da wie ganz mit Blindheit geschlagen, ich kann gar nichts tun. Ich habe keine, keine Ahnung von Gott, kein Verhältnis zu ihm. Nur eben, dass ich das weiß. Und da hilft wohl nichts anderes als Beten. Beten.

Heute ist der Sonntag mit dem lateinischen Namen Rogate, zu Deutsch: Betet! Beten ist mehr als Worte machen. Das kann auch sein, Gott das eigene klagende Herz hinzuhalten. Manchmal muss man Gott ‚in die Schürze weinen‘, wie ich als kleiner Junge meiner Mutter in die Schürze geweint habe, dass sie klatschnass wurde.

Bei Sophie Scholl in ihrem Tagebucheintrag vom 15. Juli 1942 höre ich, wie sie mit Gott ringt und kämpft – nicht nur für sich:

Ich bitte Dich von ganzem Herzen, (...) wende Dich nicht von mir, wenn ich Dein Pochen nicht höre, öffne doch mein taubes Herz, mein taubes Herz, gib mir die Unruhe, damit ich hinfinden kann zu einer Ruhe, die lebendig ist in Dir. (...) Dir in die Hand will ich meine Gedanken legen an meinen Freund, diesen kleinen Strahl der Sorge und der Wärme, diese winzige Kraft, verfüge Du mit mir nach Deinem besten, denn Du willst es, dass wir bitten und hast uns auch im Gebet für unseren Bruder verantwortlich gemacht. So denke ich an alle anderen. Amen.

Der kleine Strahl der Sorge und der Wärme, von dem sie hier spricht, ist ihr Verlobter Fritz Hartnagel, Offizier in Stalingrad. Sophie Scholls Worte klingen in heutigen Ohren eher altmodisch, so pathetisch – bis ich mir klarmache, dass das griechische Wort Pathos auf Deutsch ‚Leiden‘ meint, und Sympathie bedeutet ‚Mitleiden‘. Ihrem Verlobten schreibt sie am 18. November 1942 und damit schließe ich:

Gegen die Dürre des Herzens hilft nur das Gebet, und sei es noch so arm und klein. [...] Wir müssen beten, und für einander beten, und wärest Du hier, ich wollte die Hände mit Dir falten, denn wir sind arme Kinder, schwache Sünder. O Fritz, wenn ich Dir jetzt nichts anderes schreiben kann, [...] dann bloß deshalb, weil ich Angst in mir habe und nichts als Angst und mich nur nach dem sehne, der mir diese Angst abnimmt. Ich bin Gott noch so ferne, dass ich ihn nicht einmal beim Gebet spüre. Ja, manchmal, wenn ich den Namen Gottes ausspreche, will ich in ein Nichts versinken. Das ist nicht etwa schrecklich, oder schwindelerregend, es ist gar nichts – und das ist noch viel entsetzlicher. Doch hilft dagegen nur das Gebet, und wenn in mir noch so viele Teufel rasen, ich will mich an das Seil klammern, das mir Gott in Jesus Christus zugeworfen hat, und wenn ich es nicht mehr in meinen erstarrten Händen fühle.

Das Klagen des Herzens reicht bis in die Wolken. Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.

Eberhard Hadem