Predigt an Epiphanias 6.1.2021 Pfaffenhofen von Gerhard Wendler

Der zwölfjährige Jesus im Tempel (Lk 2, 41-52)
Und seine Eltern gingen alle Jahre nach Jerusalem zum Passafest. Und als er zwölf Jahre alt war, gingen sie hinauf nach dem Brauch des Festes. Und als die Tage vorüber waren und sie wieder nach Hause gingen, blieb der Knabe Jesus in Jerusalem, und seine Eltern wussten's nicht. Sie meinten aber, er wäre unter den Gefährten, und kamen eine Tagereise weit und suchten ihn unter den Verwandten und Bekannten. Und da sie ihn nicht fanden, gingen sie wieder nach Jerusalem und suchten ihn. Und es begab sich nach drei Tagen, da fanden sie ihn im Tempel sitzen, mitten unter den Lehrern, wie er ihnen zuhörte und sie fragte. Und alle, die ihm zuhörten, verwunderten sich über seinen Verstand und seine Antworten. Und als sie ihn sahen, entsetzten sie sich. Und seine Mutter sprach zu ihm: Mein Kind, warum hast du uns das getan? Siehe, dein Vater und ich haben dich mit Schmerzen gesucht. Und er sprach zu ihnen: Warum habt ihr mich gesucht? Wusstet ihr nicht, dass ich sein muss in dem, was meines Vaters ist? Und sie verstanden das Wort nicht, das er zu ihnen sagte. Und er ging mit ihnen hinab und kam nach Nazareth und war ihnen gehorsam. Und seine Mutter behielt alle diese Worte in ihrem Herzen. Und Jesus nahm zu an Weisheit, Alter und Gnade bei Gott und den Menschen.

Liebe Gemeinde,

heutzutage ist das ein Fall fürs Jugendamt: Ein zwölfjähriger, dessen Eltern drei oder vier Tage nicht wissen, wo er steckt? Steht doch schon im Grundgesetz: die Erziehung ist die Pflicht der Eltern. Wenn der in der Zwischenzeit was anstellt, sind sie verpflichtet, den Schaden zu ersetzen, wegen Verletzung der Aufsichtspflicht §832 BGB. Da habe ich von der Ansteckungsgefahr noch gar nicht gesprochen!

Aber es ist keine Geschichte von heute, sondern aus bíblischen Zeiten und deshalb schauen wir sie mit anderen Augen an und fragen: was davon springt über die Zeiten und den Raum hinein in unser Leben, was davon ist auch für uns wichtig und können wir für unser Leben fruchtbar machen? Es sind drei Dinge, auf die ich mich konzentrieren will.

I

Ist er Ihnen ganz am Anfang aufgefallen, dieser Halbsatz: sie gingen alle Jahre nach Jerusalem zum Passafest? Maria und Josef waren fest verankert im Glaubensleben ihrer Zeit und sie haben den zwölfjährigen Jesus, als er an der Schwelle zur Religionsmündigkeit war, mitgenommen. Sie wussten: Glaubensleben braucht Halt, braucht Bräuche und Riten, im Tageslauf, im Wochenlauf und auch im Jahreskreis. Jesus wächst da mit hinein und lernt so den Glauben seiner Eltern kennen. Das ist mit für heute auch noch wichtig: dass Kinder lernen, am Glauben teilzunehmen und mitzuerleben. Das gilt für den Tageslauf, den Wochenrhythmus und den Jahreskreis. Irgendwann kommt dann auch mal ein besonderer Event mit Tausenden von Teilnehmern wie ein Kirchentag.

II

Der zentrale Satz ist für mich: da fanden sie ihn im Tempel sitzen, mitten unter den Lehrern, wie er ihnen zuhörte und sie fragte. Hier wird mir Jesus zum Vorbild: wie er sich mit dem Glauben beschäftigt, wie er zuhört und fragt. Wie er neugierig Gottes Wort erkundet und sich mit anderen darüber austauscht. Ich kann nur an Gott glauben, wenn ich sein Wort kenne und ich mich mit anderen darüber austauschen und so das Kennen vertiefen kann.

Ich bin viel unterwegs und wenn ich Gelegenheit habe, eine Kirche zu besuchen, dann mache ich das. Am Ende des Besuchs gehe ich dann immer an den Schriftentisch und nehme mir einen Gemeindebrief mit. Mal schauen, was die anderen so treiben, wie sie ihren Gemeindebrief machen, welche Gruppen und Kreise sie haben und welche Themen diese beschäftigen. Im Blick auf unsere Frage: beschäftigen sie sich mit Gottes Wort? Ich habe noch keine Gemeinde gefunden, bei der ich nicht sagen könnte: da ist noch Platz nach oben. Ich nehme meine eigene Gemeinde da nicht aus. Mir macht das Sorge. Wir verlieren dadurch Substanz. Wie ein Baum, dessen Wurzeln nicht mehr bis zum Wasser reichen: er steht noch, er spendet noch Schatten, aber er hat keine Zukunft mehr. Ich denke, dass auch ein Teil der hohen Austrittszahlen darauf zurückzuführen ist.

Deshalb mache ich Mut und lade mit Freude ein zum Bibellesen. Derzeit muss das allein geschehen, aber nach Corona auch wieder in Gruppen. Einmal im Jahr gibt es einen Bibelsonntag, den letzten Sonntag im Januar. Das ist wenigstens ein wichtiges Symbol und ab und zu gibt es ein „Jahr der Bibel“. Das letzte war 2003, das ist nun auch schon eine Weile her. Dabei sollte jedes Jahr für Christen ein Jahr der Bibel sein. Die Hilfen zum Bibellesen sind vielfältig: es gibt Lesepläne, es gibt Einführungsliteratur, die Evangelische Bibelgesellschaft bietet vielfältiges Material an. Wer überhaupt nicht weiß, was er nehmen soll, der frage doch einfach einen Pfarrer. Ich kenne keine Pfarrerin und keinen Pfarrer, die über diese Frage nicht glücklich wären. Und ich kenne eine ganze Menge!

Wir Lutherischen haben darüber hinaus noch einen besonderen Schatz: den Kleinen Katechismus. Das ist eine Perle theologischen Nachdenkens, viel zu schade, um nach dem Konfirmandenunterricht als lästiger Lernstoff vergessen zu werden. Luther hat sich damit viel Mühe gemacht und zwei Jahre nach Erscheinen, 1531 hat er in einem Brief an seine lieben Deutschen geschrieben: Wir haben gar nicht gewusst, was ein Christ wissen soll. Aber nun ist‘s Gottlob dahin gekommen, dass Mann und Weib, jung und alt, den Katechismus weiß und wie man glauben leben beten leiden und sterben soll. Das ist der Kern, und der Unterschied zwischen einem Glauben an den Gott der Bibel auf der einen Seite und einer Ideologie oder einem esoterischen Gelabere auf der anderen Seite: dass er hilft zum glauben, leben, beten, leiden und sterben.

Es geht doch nicht darum, den Lukas zitieren zu können wie den Goethe und den Paulus wie Günter Grass oder einen Psalm nachsingen zu können wie ein Lied von Billie Eilish. Es geht darum, dass unser Gott hilft zum Leben und zum Sterben.

Wenn wir am Straßenverkehr teilnehmen, ist es selbstverständlich, dass wir zunächst lernen, wie man einen Wegweiser liest und welche Bedeutung die Symbole auf den Schildern haben. Auch für die Straßen unseres Lebens brauchen wir Wegweiser und Schilder: Bibeltexte, Gebote, Lieder, Katechismus. Und wenn es Dich auf der Straße Deines Lebens aus der Kurve wirft und Du Dich überschlägst, dann wünsche ich Dir, dass Du Dich an den Wegweiser erinnerst: vergiss nicht Gott, der Dir alle Deine Sünden vergibt und heilet alle Deine Gebrechen.

III

Emotional am meisten angerührt hat mich dieser Moment, in dem die Eltern ihr Kind wieder finden. Maria sagt zu Jesus: Wir haben Dich mit Schmerzen gesucht. Wie viel Unsicherheit, wie viel Angst, wie viele Stoßgebete stecken in diesem Satz! Und was antwortet Jesus: Warum habt ihr mich gesucht? Das tut doch weh! Das ist eine schmerzhafte Erfahrung, wenn die Kinder groß werden. Und das geht doch so schnell! Der niederländische Liedermacher Hermann van Veen hat ja Recht, wenn er über seine Tochter singt: Kaum bist Du ohne Babyspeck, schon fährst Du auf dem Mofa weg. Kinder müssen andere Wege gehen und andere Fragen stellen. Paulus hat das auch gewusst und im Blick auf sein eigenes Leben an die Korinther geschrieben: Als ich ein Kind war, da redete ich wie ein Kind, … als ich ein Mann wurde, tat ich ab, was kindlich war. Das muss so sein und das ist gut so. Auch wenn Eltern wie Maria und Josef (und vielleicht heute auch manche) zwischendrin mal vergessen, was schon in der Schöpfungsgeschichte steht: Ein Mann wird Vater und Mutter verlassen. Und eine junge Frau natürlich ebenso.

So wie der Glaube an den Weihnachtsmann abgelöst werden muss vom Wissen, wer die Geschenke eigentlich bringt, so müssen Kinder wachsen vom Glauben, den sie mitmachen hin zum eigenen Glaubensleben und ihren Weg finden hinein in die Familie Jesu. Er beschreibt seine Familie so: es sind die, die Gottes Wort hören und tun. Das hat er den Zeitgenossen gesagt. Diejenigen, die danach geboren sind, hören ihn nicht, sie müssen lesen. Das ist und bleibt die vornehmste Bewegung der Christen: die Nase in die Bibel stecken, die Hände zum Gebet falten und sie dann zur Tat öffnen. Genau in dieser Reihenfolge und nichts auslassen. So gibt Gott seinen Frieden, der größer ist als unsere Vernunft und der unsere Herzen und Sinne bewahren möge und uns wachsen lasse an Weisheit und Gnade bei Gott wie damals den 12-jährigen Jesus.

Amen

Gerhard Wendler 3. Januar 2021