Predigt am Buß- und Bettag
18. November 2020 Pfaffenhofen
Predigtwort: Jes. 1, 10-17
Höret des Herrn Wort, ihr Herren von Sodom! Nimm zu Ohren die Weisung unsres Gottes, du Volk von Gomorra! Was soll mir die Menge eurer Opfer?, spricht der Herr. Ich bin satt der Brandopfer von Widdern und des Fettes von Mastkälbern und habe kein Gefallen am Blut der Stiere, der Lämmer und Böcke. Wenn ihr kommt, zu erscheinen vor mir - wer fordert denn von euch, dass ihr meinen Vorhof zertretet? Bringt nicht mehr dar so vergebliche Speisopfer! Das Räucherwerk ist mir ein Gräuel! Neumonde und Sabbate, wenn ihr zusammenkommt, Frevel und Festversammlung mag ich nicht! Meine Seele ist Feind euren Neumonden und Jahresfesten; sie sind mir eine Last, ich bin’s müde, sie zu tragen. Und wenn ihr auch eure Hände ausbreitet, verberge ich doch meine Augen vor euch; und wenn ihr auch viel betet, höre ich euch doch nicht; denn eure Hände sind voll Blut. Wascht euch, reinigt euch, tut eure bösen Taten aus meinen Augen, lasst ab vom Bösen! Lernt Gutes tun, trachtet nach Recht, helft den Unterdrückten, schafft den Waisen Recht, führt der Witwen Sache!
Liebe Gemeinde am Buß- und Bettag
Die Herren von Sodom und das Volk von Gomorra, das sind immer die anderen. Die, von denen wir schon immer gewusst haben, dass sie nur geldgierig sind. Die, welche ihre Kinder verkommen lassen. Die marodierenden Soldaten, die in Afrika die Menschen quälen. Stammesführer, die Kriege beginnen. Autokraten in China, in Russland, Ukraine, Weißrussland, tja, auch in Amerika, die nur auf ihre eigene Macht schauen und nicht auf das Wohl des Landes. Der Nachbar, der seine Frau schlägt. Die mit großen Bonzen-Autos die Luft verpesten. Die Gewalttätigen und die Mörder. Und so weiter, und so weiter.
Als der Prophet Jesaja im Tempel Gottes Botschaft an das Volk verkündigte, haben sich die Leute die Augen gerieben. Offensichtlich meinte er sie. Der Prophet nahm sich nicht die draußen vor, sondern die, die im Tempelvorhof standen: Sodom und Gomorra seid ihr. Was zertretet ihr meinen Vorhof? Warum betet ihr überhaupt noch? Meint doch nicht, ihr seid fromm! Frevel und Festversammlung nebeneinander mag ich nicht. Eure Opfer stinken mir!
Das ist eine erschreckende Möglichkeit: Dass wir jenen damals ähneln könnten. Das Jerusalem und Pfaffenhofen sich nicht so ganz arg unterscheiden könnten. Dass Gott zu dem, was auch wir hier machen, überhaupt keine Lust hat. Dass es hier und heute nicht Vergebung gibt, sondern nur eine verbale Abreibung. Dass Gott auf unsern Bußtag pfeifen könnte und uns nicht hören will. Was dann?
Wisst ihr, warum Jesaja so kritisch zu den Menschen damals war? Weil er gespürt hat, dass die Religion von manchen seiner Leute nur dazu benutzt wurde, sich vor Gott zu schützen. Das klingt paradox, ist aber überhaupt kein Widerspruch. Ich lese und höre in Jesajas Worten eine tiefe Traurigkeit: ‚Euch ist der Tempel und das Gebet und die Anbetung Gottes nicht wirklich wichtig. Ihr wollt nicht Gott begegnen, wenn ihr zum Tempel kommt. Sondern ihr benutzt das alles nur, um euch vor Gott in Sicherheit zu bringen.‘ Das ist die Klage des Jesaja: ‚Ihr habt eine Strategie, mit der ihr euch immun macht: Ihr überseht die Schwachen unter euch. Vielleicht nicht aus Boshaftigkeit, sondern eher aus Gleichgültigkeit, aber letztlich sind die Gründe zweitrangig. Deshalb sage ich es euch konkret: Helft den Unterdrückten, schafft den Waisen Recht, führt der Witwen Sache.‘ Aber die Einwohner Jerusalems wollten nicht. Sie wollten lieber im Tempel teure Brandopfer feiern um Gott zu zeigen, wie sehr sie ihn doch lieben würden.
Die Strategie, sich zu immunisieren, kann immer anders ausfallen: Zu Jesus kam ein frommer und zugleich reicher junger Mann. Nachdem er im Tempel die Gebote und das Doppelgebot der Liebe vorgelesen hatte, sagte er: Diese Gebote habe ich alle gehalten. Und dann hat Jesus genau den Punkt gefunden, an dem der junge Mann sich vor Gott in Sicherheit bringt: Geh hin, verkaufe alles, was du hast, und gib's den Armen, so wirst du einen Schatz im Himmel haben, und komm, folge mir nach! Er aber wurde betrübt über das Wort und ging traurig davon; denn er hatte viele Güter. Wer könnte es dem jungen Mann verdenken, dass er sich weigert? Ich würde auch gerne selber verfügen, was ich mit meinem Geld mache. Aber es ist ja kein grundsätzlicher Anspruch, den Jesus an alle Menschen stellt. Sondern Jesus hat gespürt, dass der junge Mann ganz ernsthaft auf der Sinnsuche ist, deshalb fordert er ihn konkret auf: ‚Gib es den Armen und folge mir nach‘ – damit du in meiner Nachfolge den Sinn oder die Erfahrung findest, nach der du so sehr auf der Suche bist.
Der junge Mann ist frei in seiner Entscheidung, mit der er sein frommes Leben schützt und sein Geld auch. Aber ging es tatsächlich nur um sein Geld? Warum heißt es dann in der Bibel, dass er traurig davongeht? Ich verstehe es so: Er hat gespürt, dass Jesus eine wichtige Stelle bei ihm berührt hat, seine tiefe Sehnsucht, echt und glaubwürdig fromm zu sein. Aber er hat nein gesagt, weil er wusste: ‚Ich bin an einem Scheideweg und alles würde sich ändern, wenn ich hier meine Komfortzone verlasse.‘ Er hat sich selber geschützt – vor Gott.
Und bei uns? Der deutsche Entwicklungsminister Gerd Müller von der CSU hat in diesem Jahr einmal gesagt: In Berlin können sie für 75 Cent 50 Teebeutel kaufen, die in Indien hergestellt wurden. Da sage ich: Unser Wohlstand – deren Armut. Wir können auch einen Euro dafür zahlen, so dass die Frauen auf den indischen Teeplantagen statt einen Euro zwei Euro am Tag verdienen. Ich füge hinzu: Es gibt Länder, die sind noch ärmer dran. Dennoch wollen manche Menschen bei uns nicht verstehen, dass die Gründe für Flucht auch in unserem Lebensstandard begründet sind, der woanders zu Armut und Konflikten, sogar Kriegen und Vertreibung führt – egal, ob wir die Schuld an der weltweiten Verstrickung nun wahrhaben wollen oder nicht. Niemand von uns muss irgendetwas Besonderes für diese Verstrickung tun, schon gar nicht etwas Böses, sondern einfach, weil wir so leben, wie wir leben, weil unser Wohlstand und unser Lebensstandard so ist, wie er ist, ist die Sünde und die Schuld auf der ganzen Welt und auch bei uns real existierend.
Uns geht es wie allen: Wir mögen keine Schuldzuweisungen. Der erste Reflex ist deshalb immer die Verteidigung, die Rechtfertigung oder die Empörung: ‚Müssen wir uns vorwerfen lassen, wir würden die Schwachen nicht unterstützen? Wir sehen doch die Armen! Wir spenden doch. Und nicht jeder will in solcher Ernsthaftigkeit ein Jünger Jesu werden wie jener junge Mann bei Jesus. Ich will lieber normal sein. Und was kann ich für die schuldhafte weltweite Verstrickung? Ich allein kann sie doch nicht auflösen.‘
Die Antwort auf die Frage, was wir dennoch tun können, hat zwei Seiten: Wenn wir ganz konkret zukünftig nicht 75 Cent für 50 Teebeutel zahlen, sondern 1 Euro, dann kann jede und jeder bei sich selbst etwas ändern. Kauf anders ein, wenn du kannst und willst. Das ist die eine Seite.
Und die andere Seite ist: Zucke bei der Erkenntnis der eigenen Verstrickung nicht zurück, ignoriere sie nicht. Halte die Erkenntnis aus. Geh ihr nicht aus dem Weg, indem du dich als moralisch guter und frommer Mensch vor Gott präsentierst. Im Gegenteil: Mache sie dir bewusst. Dafür sind Bußtage da. Die meisten mögen keine Buße oder Bußtage. Aber darauf liegt Segen.
Deshalb gibt es diesen Tag, diesen Gottesdienst heute. Nicht Zeit für Diskussion und klugen Streit, nicht Austausch der Argumente oder des Wissens, sondern eine geschützte Zeit und ein geschützter Raum fürs Nachdenken und Stillwerden vor Gott. Zeit für die Bitte um Gottes Erbarmen. Innerhalb seines Erbarmens, das mich mehr schützt als die Mauern dieser Kirche, schaue ich hin bei mir selbst, in unserem Dorf, Landkreis, in Deutschland und Europa und weltweit.
Umgeben von Gottes Erbarmen will ich nicht ausweichen, sondern mich selber erforschen: Warum bin ich hier, in dieser Kirche? Wo trage ich dazu bei, dass sich unser Leben verdunkelt? Wo bin ich träge und will nicht wahrnehmen, wie eng die Grenzen meines Denkens sind? Wo fehlt das Vertrauen – in der Dorfgesellschaft, in der Stadt und Land, und auch bei mir – ohne das kein Zusammenhalt von Menschen, so verschieden in Religion und Kultur, gelingen kann? Was verändert sich bei uns? Nehme ich den Hass in Wort und Sprache als Schicksal hin, das ich nicht ändern kann? Was kann ich an meinem Platz tun? Was liegt in meiner Macht? Und wo hat meine Macht eine Grenze, die ich mir bewusst mache und aushalte?
Dieser Bußtag sagt: Alles beginnt damit, dass wir diese Fragen nicht anderen entgegenschleudern, sondern jede und jeder von uns sich diesen Fragen erst einmal selber stellt. Bußtage helfen, vor Gott ehrlich zu werden. Zu Beginn des heutigen Bußtag-Gottesdienstes haben wir uns vor Gott gestellt, so wie wir es auch in jedem Gottesdienst tun, stillwerden vor ihm und um sein Erbarmen bitten.
Ohne Gottes Barmherzigkeit könnte ich nicht zu meiner Verstrickung in dieser Welt stehen, könnte sie nicht aushalten. Und zugleich zeigt mir sein Erbarmen, wie ich dennoch froh und befreit leben darf in seiner Güte und Gnade, die mich trägt.
Auch diesen Blick in die Güte Gottes schulden wir uns selbst und unserem Volk und Land. Für mich heißt das: Ich will Gottes Gnade mehr vertrauen als meinen Rechtfertigungen. Ich will seiner Güte mehr vertrauen als meinen guten Absichten. Ich will seiner Liebe mehr vertrauen als dem deprimierenden Wissen, dass ich Fehler mache. Gott mehr zutrauen als mir selbst, das ist am Ende des Tages Bußtag für mich. Nicht nur heute, sondern jeden Tag.
Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.
Eberhard Hadem 16. November 2020