Predigt am Sonntag Kantate, 10. Mai 2020, Pfaffenhofen
von Eberhard Hadem
An jenem Tage wirst du sagen: Ich danke dir, Herr, dass du bist zornig gewesen über mich; und dein Zorn sich gewendet hat und du mich tröstest. Siehe, Gott ist mein Heil, ich bin getrost und fürchte mich nicht; denn Gott der Herr ist meine Stärke und mein Psalm und ist mein Heil. Ihr werdet mit Freuden Wasser schöpfen aus den Quellen des Heils. 4 Und ihr werdet sagen an jenem Tage: Danket dem Herrn, rufet an seinen Namen! Machet kund unter den Völkern sein Tun, verkündiget, wie sein Name so hoch ist! Lobsinget dem Herrn, denn er hat sich herrlich bewiesen. Solches sei kund in allen Landen! Jauchze und juble, du Tochter Zion; denn der Heilige Israels ist groß in deiner Mitte!
(Jesaja 12, 1 – 6)
Liebe Gemeinde
An jenem Tage wirst du [Mensch] sagen: Ich danke dir, Herr, dass du bist zornig gewesen über mich. Wer betet so etwas? Den zweiten Gedanken des Jesaja verstehe ich dann schon besser: Dass Jesaja Gott dankt, weil dessen Zorn sich gewendet hat, er sich getröstet fühlt.
Aber Danken für Gottes Zorn? Das ist, wie wenn du in ein Fischfiletstückchen beißt und als allererstes legt sich eine Fischgräte quer, die eigentlich gar nicht darinnen sein dürfte. Natürlich hätte ich Jesajas Dank über den Zorn Gottes ignorieren können. Aber ignorieren Sie mal eine Fischgräte! Also dachte ich mir, frage ich offensiv: Was ist der Zorn Gottes?
Wenn Menschen schlimme Dinge zustoßen, die sie aus der Bahn werfen, fragen sie sich: Womit habe ich das verdient? Warum ist Gott böse mit mir? Ist das Gottes Zorn oder nur eine Laune des Schicksals? Was habe ich getan, dass mir so was passieren sollte?
Wenn es mir passierte, fand ich Gott eher abwesend, als wäre er uninteressiert, gleichgültig – und das machte mich zornig. Vielleicht aber sind solche menschlich gedachten Erklärungen genau das Problem, denn sie unterstellen, ich wüsste genau, was Gottes Zorn ist. Es ist ja eine sehr menschliche Weise, so von Gott zu reden: Als wäre Gott wie ein Mensch, der eine Kränkung durch mich erlebt hat und darauf mir gegenüber mit Wut und Zorn reagiert. Zorn wäre, wenn Gott mir böse ist. Wenn er mir etwas wegnimmt, was mir wichtig ist, an dem ich hänge: Einen Menschen, den ich liebe. Eine Sicherheit, die mich trägt. Dass sich ein Wunsch erfüllt. Dass ich ein Ziel erreiche. Als wäre Gott ein Spielkamerad im Sandkasten: Eben noch war alles in Ordnung, und auf einmal reißt er mir mein Spielzeug weg oder haut es mir auf den Kopf. Zorn wäre, wenn Gott mir böse ist.
Für mich ist der Zorn Gottes noch viel mehr Gottes Schweigen. Wenn nicht einmal sein Wort mich tröstet. Wenn es tot ist für mich. Wenn Gott nicht redet. Es muss das Schweigen nicht nur durch einen schlimmen Verlust entstehen: Was mache ich, wenn ich alles im Leben habe, was ich brauche, aber sein Sinn und seine Bedeutung ist mir verloren gegangen? Wenn Gott schweigt.
Wenn ein Mensch gestorben ist, bringen wir unseren Kindern und Jugendlichen bei, dann könne man nur noch schweigen, besonders wenn dieser Mensch lange krank war, einen schweren Tod gehabt habe oder etwas ähnliches. Bei Beerdigungen wollen viele Menschen kaum noch singen. Teilweise verstehe ich sie auch: Zu wenig vertraut sind manche Lieder, die trösten könnten, und sie haben Angst, es würde ein trauriger Gesang. Lieber sitzt man da, hört der Orgel zu. Trostlos wird es, wenn Lieder auf CD gespielt werden, weil diese zwar stark an die Verstorbenen erinnern, aber meistens fehlen es dem CD-Player wie den abgespielten Liedern die Kraft, von dem zu sprechen, was uns Hoffnung und Trost geben kann. So wird man noch mehr ins Traurigsein gedrückt und kauert in sich selbst.
Es ist wohl wahr: Wie oft geben die Worte der Bibel, die Worte der Gesangbuchlieder nicht meinen Gemütszustand wieder, sondern treten mir entgegen als fremde Worte? Manchmal kann man sich das Evangelium nicht selber singen. Bei der Beerdigung meiner Mutter hatte ich einen Kloß im Hals und konnte nur vereinzelte Passagen singen. Aber die anderen, die hinter uns saßen, sangen uns Angehörigen die frohe Botschaft vom Sieg Jesu über den Tod, ins Ohr. Sie sangen vom Sieg des Lebens über den Tod; sie waren Zeugen von der Auferstehung, Protestleute gegen den Tod, keine stummen Traurigen, die nur schweigen.
Denn daran hängt doch alles, dass ich mich wieder ins Leben kehre und sagen kann wie der Prophet Jesaja: Siehe, Gott ist mein Heil, ich bin getrost und fürchte mich nicht; denn Gott der Herr ist meine Stärke und mein Psalm und ist mein Heil. ‚Meine Stärke’ und ‚mein Heil’ also nicht in dem Sinn, dass Gott der Garant und Diener meiner Ziele und Wünsche ist, sondern ‚mein’ in dem Sinn, dass Kraft und Friede in mein Herz kommen. Mich ruhig und sicher machen in dem, was ich tue und lasse. Und ich trotz aller Gefahr und Entbehrung und Nöte, die das Leben für mich bereit hält, wieder fröhlich meine Wege ziehen darf, dass ich sein darf wie ein Fisch im großen Weltenmeer: ‚Hier bin ich richtig. Hier gehöre ich hin.‘ Daran hängt doch alles, dass ich mich finden lasse vom Wort Gottes, und mich trösten und mir Mut machen, sogar mich ärgern lasse – und es mich trotzdem nicht loslässt.
Es ist schon wahr: Manchmal kann man die Lieder der Christen nur so singen, wie man einen Satz in einer Fremdsprache spricht: Zögernd und kaum verstehend. Gestern sagt jemand zu mir: ‚Singen und Gottesdienst, das ist doch eines, das gehört doch zusammen, das geht doch nicht, dass wir in Corona-Zeiten nicht singen dürfen.‘ Summen dürfen wir am kommenden Sonntag, 17. Mai. Tastend und verstehend nachsummen, innerlich zum Klingen bringen. Vielleicht müssen wir lernen, unseren Körper wieder stärker als Instrument zu verstehen, Body-Percussion machen, also bei uns selbst den Klängen, dem Rhythmus, der inneren Bewegtheit nachspüren.
Ich würde am liebsten eine Gottesdienstgemeinde zum Tanzen auffordern, immer zwei, die auch im Alltag zusammenleben, Mutter und Tochter, Vater und Sohn, Ehemann und Ehefrau, Geschwisterkinder und welche Kombination noch denkbar ist. Was du nicht singen darfst, darfst du aber in dir spüren – welche Kraft geht von mir beim Tanzen aus, welche Kraft wächst mir zu? Gehalten und geführt, sich führen lassen oder den anderen führen, etwas gemeinsam tun. Als ein Versprechen, eine Verheißung, ein Angeld für die kommende Zeit ohne Singen. Denn einmal wird es heißen, so wie es häufig in der Bibel heißt: „Als aber die Zeit erfüllt war…“.
Es wird ein Tag sein, an dem ich Danke sagen kann, auch und gerade für Gottes Schweigen, seinen Zorn. Der helle Morgen beginnt dort, wo ich sagen kann: Danke für die dunkle Nacht. Einer meiner Lehrer war sterbenskrank. Wenige Wochen vor seinem Tod wacht er eines Morgens um 4 Uhr auf. Er weckt seine Frau, die neben ihm schläft und fragt: „Hörst du sie auch?“ Und sie sagt schlaftrunken: „Was soll ich hören?“ „Na, die Vögel, wie sie singen!“, antwortet er. Der helle Morgen beginnt, wo ich Danke sagen kann mitten in dunkler Nacht. So geht es zu im Reich Gottes, eben nicht nach Augenschein.
Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.